Landguet Ried, Center for mindful living | Retreatzentrum & Seminarhaus

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EIN PLÄDOYER FÜR KONTEMPLATIVE PSYCHOTHERAPIE

August 2022


— von Joe Loizzo —

Photo: Rutpratheep Nilpechr


Kontemplative Psychotherapie ist ein Hybrid-Therapieansatz, der die meditativen Einsichten, die Ethik und die Praktiken des Buddhismus mit der Theorie und Anwendung der westlichen Neuropsychologie, Sozialpsychologie und Psychotherapie verbindet. Diese Mischung kann bei manchen Menschen kognitive Dissonanzen hervorrufen. «Kontemplation» und «kontemplativ» – Begriffe, die sich vom lateinischen contemplatio ableiten – werden seit jeher verwendet, um eine Disziplin der individuellen und gruppendynamischen Reflexion zu beschreiben, die als zentraler Bestandteil des introspektiven Lernens gilt, insbesondere des meditativen und ethischen Lernens, das von Laien und Fachleuten in traditionellen westlichen Religionsgemeinschaften praktiziert wird. Die Psychotherapie hingegen hat sich als heilende Disziplin des introspektiven Lernens entwickelt, die hauptsächlich auf einer dyadischen Methode der Reflexion beruht, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse über die menschliche Natur, und praktiziert in vertraulichen Beziehungen zwischen Fachleuten für psychische Gesundheit und ihren Klienten in modernen klinischen Einrichtungen.

Die Ursprünge der Psychotherapie

In seinem Werk «Die Zivilisation und ihr Unbehagen» plädierte Freud im weitesten Sinne für eine neue Wissenschaft und Kunst der Psychotherapie: als eine moderne Antwort auf das uralte Dilemma, das der vorsokratische Denker Empedokles beschrieben hatte. Gefangen zwischen dem selbstschützenden Instinkt für das Überleben und dem selbsttranszendierenden Instinkt für die Generativität müssen wir Menschen lernen, den Stress zu überwinden und stattdessen Liebe und Mitgefühl verkörpern, um uns allmählich an die zunehmend sozialen Bedingungen des zivilisierten Lebens anzupassen. Freuds Hauptargument bestand darin, die Ansichten und Methoden der Psychotherapie denen der Religion – der östlichen wie der westlichen – gegenüberzustellen und seine neue Wissenschaft und Kunst als moderne, säkulare und pragmatische Alternative zu den uralten Erfahrungen grenzenloser Gemeinschaft und Liebe anzubieten, die durch Meditation und Yoga kultiviert werden.

Die Tatsache, dass Freud das Bedürfnis verspürte, zu den Griechen zurückzugehen, um die Wurzeln der Psychotherapie zu finden, ist nicht überraschend, wenn man die Entstehungsgeschichte der modernen Wissenschaft betrachtet – die im 15. Jahrhundert als eine Renaissance der verlorenen griechischen Wissenschaft entstand. Überraschend ist, dass er zwanzig Jahrhunderte überbrücken musste, um einen weiteren Fall von heilendem, erziehendem Dialog zu finden, den er als Präzedenzfall für seine Wiederentdeckung anführen konnte. Dabei ist es nicht so, dass die Menschheit diese universelle Praxis zwanzig Jahrhunderte lang einstellte. Als junger Jude, der im katholischen Wien aufgewachsen war, kannte Freud zwei solcher Praktiken, die in den religiösen Traditionen des jüdisch-christlichen Abendlandes verankert sind: das Rabbinat und die Beichte.

«Gefangen zwischen dem selbstschützenden Instinkt für das Überleben und dem selbsttranszendierenden Instinkt für die Generativität müssen wir Menschen lernen, den Stress zu überwinden und stattdessen Liebe und Mitgefühl verkörpern, um uns allmählich an die zunehmend sozialen Bedingungen des zivilisierten Lebens anzupassen.»

Seine Rückkehr zu den Griechen deutet also darauf hin, dass er jede Verbindung zu diesen Formen der spirituellen Beratung vermeiden wollte. Sein einstiger Nachfolger Carl Jung, der Sohn eines protestantischen Pfarrers, scheute dagegen nicht die Doppeldeutigkeit der Rolle des Psychotherapeuten und des spirituellen Beraters oder Führers. Freuds Ablehnung dieser Präzedenzfälle und ihrer Entsprechungen in den hinduistischen und buddhistischen Mentorenbindungen, die von seinen Zeitgenossen Romain Rolland und Jung erforscht wurden, lässt sich also am einfachsten als Ausdruck seiner Absicht erklären, die Psychotherapie im europäischen Aufklärungskonflikt zwischen Wissenschaft und Religion entschieden auf die Seite der modernen Wissenschaft zu stellen.

Es ist Freuds Verdienst, die Landschaft der modernen Kultur richtig gelesen und eine taktische Entscheidung getroffen zu haben, die es der Psychotherapie ermöglichte, in einer Zeit zu einer Mainstream-Institutionen zu werden, in der die wissenschaftliche Moderne die Menschen zwang, kontemplatives Heilen, Pädagogik und ethische Gemeinschaft hinter sich zu lassen, als Artefakte der religiösen Vergangenheit der Menschheit.


Brückenschlag zwischen Psychotherapie und kontemplativer Wissenschaft

Jetzt, da die moderne Kluft zwischen Wissenschaft und Kontemplation zunehmend überbrückt wird, sind wir in der Lage, die kontemplative Praxis und ihre Betonung des Lernens in der Gruppe und der heilenden Gemeinschaft wieder in den Dialog mit der Neuropsychologie und der Praxis der Psychotherapie zu bringen.

Langfristig gesehen war die Konvergenz der Durchbrüche in den Neurowissenschaften, der positiven Psychologie, der Meditationsforschung und der Achtsamkeitsinterventionen in den letzten zwei Jahrzehnten sowohl zeitgemäß als auch effektiv. Sie war robust genug, um den Weg für eine umfassendere Integration von Psychotherapie und kontemplativem Heilen zu ebnen, wie sie von Befürwortern kontemplativer Traditionen wie Jung angestrebt wurde. Auch wenn die zunehmende Verschmelzung dieser für eine lange Zeit divergierenden Bereiche vielen immer noch als unwahrscheinlich oder neu erscheint, lässt sich die tiefe Ähnlichkeit der Methoden und Wirkmechanismen, die diesen menschlichen Praktiken zugrunde liegen, nicht leugnen.

Gleichzeitig hat sich das Zusammenspiel durch das wachsende Bewusstsein für die kritische Rolle, die umfassendere soziale Faktoren wie systemischer rassischer, geschlechtsspezifischer und wirtschaftlicher Stress sowie Traumata für das individuelle Leiden spielen, weiter vertieft. Und dieses Bewusstsein fällt mit wissenschaftlichen Entwicklungen zusammen, die darauf hindeuten, dass positive sozial-emotionale Faktoren, sowohl auf der dyadischen Ebene der Einzelarbeit als auch auf der Gruppenebene der Familien- und Gemeinschaftsarbeit, für die Vertiefung und Beschleunigung der Heilung weitaus entscheidender sind als die gängigen Ansätze zur psychischen Gesundheit angenommen haben.

Diese Verschiebung hin zu einer größeren Wertschätzung der Rolle von Kultur und Gemeinschaft als Schlüsselvariablen bei Krankheit und Heilung hat die Verbindung der zeitgenössischen Psychotherapie mit zeitlosen kontemplativen Traditionen weiter gefördert, da kontemplative Heilungsansätze, wie sie von Jung veranschaulicht wurden, ebenso sehr oder mehr auf die Heilungskultur und die Gemeinschaft vertrauen wie auf konventionelle Psychotherapie-Dyaden.

Die Nachweise dafür, dass Achtsamkeit vor allem durch die Stärkung des präfrontalen Kortex wirkt, um das Selbstbewusstseins, die neokortikalen Integration und das soziale Engagements zu verbessern, stehen im Einklang mit den aktuellen Überlegungen zur einsichtsorientierten und kognitiven Psychotherapie.

Jüngste Belege dafür, dass die Mitgefühlsmeditation die Stärkung des limbischen Kortex  bewirkt, um die Selbstregulierung der sozial-emotionalen Stressreaktivität zu verbessern und die Integration prosozialer Emotionen, empathischer Resonanz und proaktiver Reaktionen zu fördern, stehen zudem im Einklang mit den aktuellen Überlegungen zur objektbezogenen, interpersonellen und Paartherapie.

«Jetzt, da die moderne Kluft zwischen Wissenschaft und Kontemplation zunehmend überbrückt wird, sind wir in der Lage, die kontemplative Praxis und ihre Betonung des Lernens in der Gruppe und der heilenden Gemeinschaft wieder in den Dialog mit der Neuropsychologie und der Praxis der Psychotherapie zu bringen.»

Und vorläufige Ergebnisse, dass Vorbildwirkung, positive Wiederholung, Atemkontrolle und sanfte Bewegung bei der Überwindung traumatischer Abwehrmechanismen und der Integration des sozialen Bindungssystems zwischen Hypothalamus und Hirnstamm wirken, stehen im Einklang mit aktuellen Überlegungen zu verkörperten Ansätzen wie der Jungschen Analyse, der Gestalttherapie, dem Somatic Experiencing (SE), der Sensomotorischen Psychotherapie (SP) und der Accelerated Experiential Dynamic Psychotherapy (AEDP).

Die Tatsache, dass wir Synergien zwischen einer solchen Reihe von kontemplativen Praktiken und Psychotherapien finden, mag unwahrscheinlich erscheinen, aber sie steht im Einklang mit den Ergebnissen früherer Studien über die allgemeinen Wirkungen und Mechanismen von Meditation und Psychotherapie. Meditation und Psychotherapie scheinen ihre Wirkungen auf demselben gemeinsamen Weg zu erzielen: einer nachhaltigen strategischen Verschmelzung von zwei sich ergänzenden Mechanismen. Beide Praktiken reduzieren Stress, indem sie Entspannungstechniken anwenden, um die sympathische Erregung zu senken und den Vagustonus zu erhöhen; und beide verbessern gleichzeitig das Lernen, indem sie Techniken anwenden, die die Aufmerksamkeit erhöhen und die neuronale Plastizität fördern.

Auf diese Weise wirken Meditation und Psychotherapie darauf hin, ein optimales inneres Umfeld zu schaffen, das stressbedingte Widerstände entschärft und die Bereicherung des Lernens begünstigt. Indem sie die volle Kapazität des Gehirns für soziales Lernen optimieren, erweitern diese Praktiken die Offenheit des Geistes für gemeinsame Introspektion und heilenden Dialog; und indem sie diese Veränderung in einem stabilen, unterstützenden und gleichberechtigten sozialen Lernumfeld kultivieren, stärken sie diese Offenheit durch wiederholtes Üben im Laufe der Zeit. Infolgedessen erleichtern sie den allmählichen Abbau dissoziativer Integrationshindernisse und fördern das Wachstum eines höheren Selbstbewusstseins, der Selbstregulation und der Selbsttranszendenz durch die Entwicklung integrative, sozial engagierte Strukturen und Prozesse im Gehirn.

Als Gesellschaft befinden wir uns in einem entscheidenden Moment, in dem wir mit einer Reihe von systemischen Herausforderungen konfrontiert sind, darunter Rassen-, Geschlechter- und Einkommensungleichheit, politische Polarisierung und die Klimakrise, für deren Lösung wir unsere volle Menschlichkeit zurückgewinnen müssen. Kontemplative Psychotherapie als eine humanisierende Praxis kann uns dabei helfen, die Einsichten und Fähigkeiten zu erlangen, die wir brauchen, um Wissenschaft, Weisheit und Ethik erneut mit unserer zunehmend komplexen und voneinander abhängigen Lebensweise zu vereinen.


Die Fortbildung, welche am 28. Oktober 2022 beginnt, wird in einer hybriden Form angeboten, wobei Online-Lehren und -Ressourcen, wöchentliche Online-Konferenzen und vor Ort Retreats im Landguet Ried kombiniert werden.

Sind Sie neugierig geworden auf den reichhaltigen Ansatz des Nalanda-Instituts? Erfahren Sie mehr und melden Sie sich hier an.

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Dieser Beitrag wurde am 23. Juni 2022 von Joe Loizzo, dem Gründer und akademischen Leiter des Nalanda Institute for Contemplative Science, veröffentlicht. Er wurde aus der kommenden 2. Auflage von Advances in Contemplative Psychotherapy übernommen, die im Januar 2023 bei Routledge erscheinen wird.


Joe Loizzo, MD, PhD ist ein in Harvard ausgebildeter Contemplative Psychotherapeut, buddhistischer Gelehrter und Autor mit mehr als vier Jahrzehnten Erfahrung in der Integration von indo-tibetischer Geisteswissenschaft und Heilkunst in moderne Neuropsychologie, Psychotherapie und klinische Forschung. Er ist Gründer und Leiter des Nalanda Instituts, Assistenzprofessor für Psychiatrie am Weill Cornell Medical College und Praktizierender Therapeut mit privater Praxis in Manhattan.