WIE KÖNNEN METHODEN DER KONTEMPLATION DIE WELT DER PSYCHOTHERAPIE ERGÄNZEN?

30. Juni 2021


Ein Gespräch zwischen Joe Loizzo und Begoña Martinez

Bis vor über 60 Jahren wurden die buddhistischen Lehren geheim gehalten und praktiziert in der reinen Welt der Höhen des Himalayas, abgeschieden jeglicher Zivilisation. Aus politischen Gründen verliessen buddhistische Lehrer und anerkannte Lamas ihr Land, auf der Suche nach einer neuen Heimat in den westen Ländern. In ihrem Gepäck dabei, brachten sie eine elaborierte Philosophie, ein Verständnis der Gesetzgebung des Kosmos und eine Reihe von Methoden zur Schulung des Geistes mit. All das wurde von vielen sinnsuchenden Menschen – in einer zunehmend materialistischen Welt – in der neuen Heimat begeistert aufgriffen.

Gleichzeitig ermöglichte die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Instrumente – wie zum Beispiel die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) – die Erforschung des Gehirns und die Entstehung einer ganz neuen wissenschaftlichen Disziplin: der Neurowissenschaft.

Zum ersten Mal wurden in wissenschaftlichen Labors Gehirne buddhistischer Mönche und sehr erfahrenen Meditierenden analysiert. Dadurch konnte erstmals wissenschaftlich nachgewiesen werden, was tibetische Lamas schon seit Jahrhunderten wussten: Meditationspraxis hilft, das Gehirn umzubauen und schafft neue neuronale Netzwerke, die Glück und Wohlbefinden fördern.


Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse haben in hohem Masse die Einbeziehung kontemplativer Praktiken in den klinischen Bereich der Psychotherpaie legitimiert und zu vielen achtsamkeitsbasierten und psychologischen Therapieformen der «dritten Generation» geführt.

Was sind achtsamkeitsbasierte und psychologische Therapieformen der «dritten Generation»?

In den späten 70er Jahren entwickelte Jon Kabat-Zinn das heute weltweit verbreitete Programm zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction). Die Kernpunkte der Achtsamkeits-Meditationspraxis – losgelöst von ihrem kulturellen und religiösen Kontext – werden in einem 8-wöchigen Programm vermittelt, welches die Kursteilnehmenden durch die Grundlagen der Metakognition, der Perspektivenübernahme und der achtsamen Kommunikation führt.

Psychologische Therapien der «Dritten Generation», die auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie (CBT, Cognitive Behavioural Psychotherapy) entwickelt wurden: eine Reihe von neuen verhaltenstherapeutischen und kognitiven Ansätzen, welche auf kontextbezogenen Konzepten beruhen. Konzepte, welche sich auf die Beziehung der Klienten zu ihren eigenen Gedanken und Emotionen fokusieren und nicht auf den Inhalt derer Gedanken und Emotionen.

Konzepte wie Metakognition, Selbstakzeptanz, Achtsamkeit, persönliche Werte und Spiritualität werden häufig in das integriert, was man sonst als traditionelle verhaltenstherapeutische Interventionen bezeichnen würde.

«Dritte Generation» oder kontemplative Therapieformen stellen die ganzheitliche Förderung von psychologischen und Verhaltensprozessen, die mit Gesundheit und Wohlbefinden verbunden sind, über die Reduzierung oder Beseitigung von psychologischen und emotionalen Symptomen, wobei dies üblicherweise ein positiver «Nebeneffekt» ist.

Was hat das Nalanda Contemplative Psychotherapy Programm für die Welt der Psychotherapie zu bieten?

Letzte Woche hatte ich das Vergnügen, mich mit Joe Loizzo online zu treffen. Joe ist Mitbegründer und Direktor des Nalanda Insititute in New York. Wir führten unser Gespräch im Zusammenhang mit dem Beginn der Fortbildung in Kontemplativer Psychotherapie, welche im kommenden Oktober zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum, in Kollaboration mit dem Landguet Ried, durchgeführt wird.

Das Gespräch war durch und durch erfreulich, reichhaltig und aufschlussreich. Ich habe hier für Sie die interessantesten Aussagen gesammelt, welche Ihnen dazu Aufschluss geben sollen, wie kontemplative Methoden die Psychotherapie heute bereichern können.

Begoña Martinez: Joe, du hast über die jüngsten Durchbrüche in der Forschung gesprochen, die darauf hinweisen, dass das buddhistische Verständnis des Geistes wichtige Schlüssel und Werkzeuge enthält, die in den gegenwärtigen Ansätzen der Psychotherapie immer relevanter werden. Könntest du, Joe, erklären, was diese Schlüsselelemente innerhalb des Nalanda Contemplative Psychotherapy Program sind und wie sie in diese Fortbildung integriert wurden?

Joe Loizzo: Inzwischen hat jeder schon von Achtsamkeitsmeditation gehört und wie sie in die Welt der Wissenschaft, Gesundheit und Psychologie Einzug gehalten hat. Tatsächlich war ich zu der Zeit in Harvard, als Jon Kabat-Zinn begann, Achtsamkeit an der UMass University einzuführen.

Was Jon tat, war, dass er das Üben in Achtsamkeit, als eine Praxis des Aufmerksamkeits-Trainings extrahierte, unabhängig von der Kultur und den anderen Aspekten, die mit der Weisheitstradition des Buddhismus einhergehen. Jon schaffte es auf sehr wirksame Weise, daraus eine Aufmerksamkeitstrainings-Übungspraxis zu machen, die sich bei der Linderung von Schmerzen und der Reduzierung von Depressionssymptomen als sehr erfolgreich erwies.

Als seine ersten wissenschaftlichen Untersuchungen an Bedeutung gewannen, begannen er und andere bereits im Jahr 2000, achtsamkeitsbasierte Methoden in die Psychotherapie und Psychologie zu integrieren. Im Jahr 2004 wurde eine Publikation von Antoine Lutz und Richard Davidson veröffentlicht, die zeigte, dass erfahrene Meditierende eine bestimmte Art von Gehirnwelle entwickeln konnten, die auf Lernen und Neuroplastizität hindeutete, die sogenannte Hochfrequenz-Gamma-Welle.

Diese Studie brachte die frühe Forschung über die Wirksamkeit und Akzeptanz der Achtsamkeitspraxis mit der grössten Entdeckung der Neurowissenschaften der letzten drei Jahrzehnte zusammen: der Neuroplastizität

Es war also in den frühen 2000er Jahren, als man erkannte, dass Achtsamkeit nicht nur wirksam oder hilfreich ist, sondern wahrscheinlich einer der besten Ansätze, um die Neuroplastizität zu stimulieren und damit den natürlichen Heilungsprozess des Gehirns zu fördern, der in der Gesprächstherapie und anderen Arten der kognitiven Therapie stattfindet.

Infolgedessen wurden in den folgenden Jahren viele kognitive Verhaltenstherapien entwickelt, die die Achtsamkeitspraxis mit einbeziehen, wie zum Beispiel die Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT), die Acceptance and Commitment Therapy (ACT) und so weiter.

Wenn wir aber einen Blick zurück zu den Wurzeln dieser Übungen werfen wollen, so kam die Praxis der Achtsamkeit aus der alten buddhistischen Tradition zu uns.

Das Üben in Achtsamkeit wurde in den vergangenen Jahrzehnten geschickt in verschiedene Achtsamkeits-Interventionen eingebaut, aber in Wirklichkeit stellt die Achtsamkeitpraxis nur einen kleinen Bruchteil all der verschiedenen Methoden und Strategien zur Heilung dar, die in der buddhistischen Tradition entwickelt wurden.

BM: In der Tat sind achtsamkeitsbasierte Angebote in der jüngeren Vergangenheit sprunghaft angestiegen. Ich bin wirklich neugierig zu erfahren, wie sich das Nalande Contemplative Psychotherapy Program von ihnen unterscheidet? Welche anderen Elemente sind darin enthalten?

JL: Achtsamkeit entwickelte sich sehr früh in der buddhistischen Tradition. Buddha versuchte im Wesentlichen, Meditations- und Yogapraktiken seiner Zeit zu nehmen und sie für jedermann, jede Frau zugänglich zu machen, und sie im Wesentlichen in eine Wissenschaft zu überführen.

Der erste Unterschied unserer Fortbildung besteht also darin, dass wir im Gegensatz zur MBSR oder MBCT (Mindfulness Based Cognitive Therapy), oder anderen achtsamkeitsbasierten Programmen nicht nur eine einfache Form der Achtsamkeitspraxis integrieren, sondern alle klassischen Formen der Achtsamkeit – von denen es mindestens vier Formen, wenn nicht sogar sechs Formen gibt.

Darüber hinaus beinhaltet die Fortbildung auch das psychologische Wissen sowie die ethischen, motivatorischen und energetischen Aspekte, die für eine ganzheitliche Heilung notwendig sind.

Aus buddhistischer Sicht beinhaltet die Wirksamkeit jeglicher Heilmethoden ein tiefes und grundlegendes Verständnis von Leiden und Glück, das es erlaubt, Achtsamkeit weise einzusetzen, um Veränderungen zu bewirken. Es ist auch wichtig zu verstehen, dass es die Kultivierung einer positiven, selbstfürsorglichen, nicht schädigenden, mitfühlenden Motivation ist, die Achtsamkeit funktionieren lässt.

In unserem Programm vermischen wir also Achtsamkeit nicht mit westlicher kognitiver Therapie oder anderen säkularen Ansätzen, sondern schauen uns die grundlegenden Elemente an, die sich in der frühen buddhistischen Wissenschaft und Psychologie entwickelt haben und die Selbstheilung als Ganzes fördern. 

BM: Danke, Joe, es war mir eine wahre Freude, von den vielen Aspekten zu hören, die diese Fortbildung zu bieten hat. Ich freue mich schon darauf, das nächste Mal mit Dir zu sprechen, vielleicht könntest Du dann ein bisschen mehr über, wie Du es nennst, die drei Wellen der Entwicklung der kontemplativen Psychotherapie erzählen.

JL: Ich danke dir, Begoña, und ja, es wäre mir ein Vergnügen, die Entwicklung des Nalanda Contemplative Psychotherapy Program etwas näher zu erläutern, das innerhalb der kontemplativen Traditionen einen Schritt nach vorne macht – und das ich als die dritte Welle der Entwicklung in der kontemplativen Psychotherapie bezeichne.

BM: Das klingt sehr interessant. Ich bin sehr gespannt darauf. Und natürlich freuen wir uns darauf, dich und dein Team dieses Jahr im Oktober willkommen zu heissen!


Hat Ihnen der Inhalt des Gesprächs gefallen? Dann lesen Sie den zweiten Teil des Interviews , in dem Joe und Begoña über die drei Entwicklungsstufen, die drei Wellen, wie Joe Loizzo sie nennt, in der Entstehung der achtsamkeitsbasierten oder kontemplativen Heilung, sprechen

Das Trainingsprogramm, das am 22. Oktober 2021 beginnt, wird in einer hybriden Form angeboten, die Online-Unterricht und Ressourcen, wöchentliche Konferenzen mit Residential Retreats kombiniert, welche hier in der Schweiz, im Landguet Ried, stattfinden werden.

Sind Sie vom umfangreichen Ansatz des Nalanda-Instituts fasziniert?

Erfahren Sie mehr und melden Sie sich hier an.


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Begoña Martinez ist Geschäftsführerin im Landguet Ried. Zuvor war sie als Senior Programme Manager beim Weltwirtschaftsforum tätig, wo sie von 2008 bis 2015 die Entwicklung der Gesundheits- und Leadership-Programme der Davos-Agenda leitete und Pioni…

Begoña Martinez ist Geschäftsführerin im Landguet Ried. Zuvor war sie als Senior Programme Manager beim Weltwirtschaftsforum tätig, wo sie von 2008 bis 2015 die Entwicklung der Gesundheits- und Leadership-Programme der Davos-Agenda leitete und Pionierarbeit bei der Einbeziehung von Achtsamkeitsthemen in die jährliche Programmplanung leistete, wobei sie eng mit Thought Leaders auf diesem Gebiet zusammenarbeitete.

Joe Loizzo, MD, PhD ist ein in Harvard ausgebildeter Contemplative Psychotherapeut, buddhistischer Gelehrter und Autor mit mehr als vier Jahrzehnten Erfahrung in der Integration von indo-tibetischer Geisteswissenschaft und Heilkunst in moderne Neuro…

Joe Loizzo, MD, PhD ist ein in Harvard ausgebildeter Contemplative Psychotherapeut, buddhistischer Gelehrter und Autor mit mehr als vier Jahrzehnten Erfahrung in der Integration von indo-tibetischer Geisteswissenschaft und Heilkunst in moderne Neuropsychologie, Psychotherapie und klinische Forschung. Er ist Gründer und Leiter des Nalanda Instituts, Assistenzprofessor für Psychiatrie am Weill Cornell Medical College und Praktizierender Therapeut mit privater Praxis in Manhattan.